Dieser Krieg wird nicht auf dem Schlachtfeld enden
Der ehemalige SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans unterstützt die Forderung des Vorsitzenden der Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, zur Beendigung des Ukraine-Kriegs auch Verhandlungsoptionen ins Auge zu fassen.
Der ehemalige SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans unterstützt die Forderung des Vorsitzenden der Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, zur Beendigung des Ukraine-Kriegs auch Verhandlungsoptionen ins Auge zu fassen.
"Ich teile seine und die Einschätzung vieler, dass dieser Krieg nicht auf dem Schlachtfeld enden wird, sondern am Verhandlungstisch", schreibt Walter-Borjans in einem Gastbeitrag für die in Bielefeld erscheinende Neue-Westfälische (Freitagausgabe). "Der Schlüssel zur Lösung dazu liegt in einer neuen Machtkonstellation, die der Westen erst nach und nach zur Kenntnis zu nehmen bereit ist. Dabei spielt China eine besonders bedeutende Rolle", so der Ex-SPD-Chef weiter. Despoten pflegten ihre eigene Einschätzung als Maßstab zu nehmen und sich nicht von einer völkerrechtlichen Argumentation beeindrucken zu lassen, mahnt Walter-Borjans und beruft sich mit seiner Mahnung auf den früheren US-Präsidenten John F. Kennedy während der Kuba-Krise: "Mich stimmt der von John F. Kennedy überlieferte Satz jedenfalls nachdenklich, dass man eine Atommacht nie vor die harte Alternative zwischen einem für sie demütigenden Rückzug und dem Einsatz ihres gesamten Waffenarsenals stellen sollte. Zu glauben, dass sich einer wie Putin dann für den demütigenden Rückzug entschiede, halte nicht nur ich für Tagträumerei."
Der Text des Beitrags im Wortlaut:
"Von Norbert Walter-Borjans
Demokratie lebt vom Streiten, vom Respektieren anderer Meinungen und von der Fähigkeit, Meinungen von Fakten zu unterscheiden. Derzeit liegt da bei uns einiges im Argen. Die einen tun wissenschaftliche Evidenz, etwa beim Klimawandel, als Meinung ab. Die anderen erklären ihre Ansicht von militärischer Strategie zur allein richtigen Leitlinie.
Wer davon abweicht, muss mit Häme, oft sogar mit verbissener Ablehnung bis hin zur offenen Feindseligkeit rechnen. Das erleben gegenwärtig der Kanzler und noch weit heftiger der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich. Er hat sich die Frage erlaubt, ob man nicht auch - die Betonung liegt auf "Frage" und "auch"! - über ein Einfrieren des seit über zwei Jahren anhaltenden Blutvergießens in der Ukraine und schließlich über ein Ende des Krieges nachdenken müsse, anstatt ausschließlich darüber zu reden, wie man Krieg führt. Damit hat er in den Augen bedeutender Meinungsmacher ein Tabu verletzt. Die durchaus differenzierte öffentliche Meinung wird schlichtweg ignoriert. Wer vom Krieg redet, der gewonnen werden muss, darf sich als Experte fühlen. Wer vom Frieden redet, ist ein Träumer, der sich einem Aggressor zu unterwerfen bereit ist.
Münden Moral und Kriegslogik tatsächlich so alternativlos in Eskalation, wie uns das in Kommentaren, Talkshows und offenen Briefen tagtäglich eingebläut wird? Die Entspannungspolitik hat in Mitteleuropa für mittlerweile 79 Jahre Frieden gesorgt. Soll sie jetzt auf das Fazit verkürzt werden, uns kriegsuntüchtig gemacht zu haben?
Schaffen wir Frieden, Freiheit und die Achtung von Menschenrechten in der Ukraine wirklich nur, wenn wir das Ende des täglich tausendfachen Sterbens auf beiden Seiten absolut zeitgleich mit der Wiederherstellung vollständiger territorialer Integrität akzeptieren? Wie viele Zehntausende müssen bis dahin noch sterben?
Ich bin - offenbar anders als derzeit viele in Politik und Medien - kein Militärexperte. Ein paar Fragen an die, die das für sich anders sehen, habe ich schon. Woher kommt eigentlich der Glaube, man müsse die Rückeroberung der Ostukraine und der Krim nur massiv genug betreiben, um Tod und Zerstörung zu stoppen? Hören die Raketenangriffe von russischem Territorium auf die ganze Ukraine mit der Rückeroberung dann auf? Müssten nicht die Startbasen von Bombern und Raketen auch in Russland ausgeschaltet werden - erst recht, wenn die Ukraine den Krieg nicht nur nicht verlieren, sondern gewinnen soll? Wir sehen doch jeden Tag, dass die Abwehr allein keinen vollständigen Schutz gibt und Opfer in der Zivilbevölkerung zu beklagen sind. Haben die Befürworter einer Lieferung von Lenkwaffen mit einer Reichweite bis weit ins russische Hinterland hinein die schleichende Ausweitung des Einsatzes möglicherweise schon im Hinterkopf? Glauben sie wirklich, Putin ließe sich von der völkerrechtlichen Argumentation beeindrucken, dass ein Taurus-Einsatz Deutschland nicht zur Kriegspartei macht, wenn er auf die besetzten ukrainischen Gebiete begrenzt bliebe?
Despoten pflegen ihre eigene Einschätzung als Maßstab zu nehmen. Die Frage, wie lange der Einsatz taktischer Atomwaffen für den Kriegsherrn im Kreml ein Tabu bleibt, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht, dürfen wir nicht als Hirngespinst abtun, selbst wenn wir das möchten. Mich stimmt der von John F. Kennedy überlieferte Satz jedenfalls nachdenklich, dass man eine Atommacht nie vor die harte Alternative zwischen einem für sie demütigenden Rückzug und dem Einsatz ihres gesamten Waffenarsenals stellen sollte. Zu glauben, dass sich einer wie Putin dann für den demütigenden Rückzug entschiede, halte nicht nur ich für Tagträumerei.
Rolf Mützenich hat im Deutschen Bundestag eine fundamental wichtige Frage gestellt: Was können wir tun, um das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine über ihr Territorium wiederherzustellen und das Blutvergießen zu beenden, ohne allein auf die Fortsetzung des Krieges mit geradezu zwangsläufiger Eskalation zu setzen? Er hat sich nicht für den Stopp von Waffenlieferungen als Vorleistung für Verhandlungen ausgesprochen. Im Gegenteil: Er fordert ein noch größeres finanzielles Engagement. Ich teile seine und die Einschätzung vieler, dass dieser Krieg nicht auf dem Schlachtfeld enden wird, sondern am Verhandlungstisch. Aber ich gebe auch denen recht, die nicht glauben, dass sich Putin vom Westen dorthin bringen lässt. Der Schlüssel dazu liegt in einer unübersehbar entstehenden neuen Machtkonstellation, die der Westen erst nach und nach zur Kenntnis zu nehmen bereit ist. Dabei spielt China eine besonders bedeutende Rolle.
Über Für und Wider zu streiten, ist nicht ehrenrührig. Wer aber den Kurs des Kanzlers und des SPD-Fraktionschefs zu riskant findet und stattdessen weit riskantere Schritte der Eskalation fordert, sollte wenigstens versuchen, vom Ende her zu denken und andere Meinungen einzubeziehen. Denkverbote könnten wir morgen bitter bereuen."