Führende Wissenschaftler kritisieren Beendigung der "pandemischen Notlage" als "Sabotage des Pandemie-Managements"
Der Appell führender Mediziner und Wissenschaftler an die Politik zu einer entschlossenen Pandemiebekämpfung ist in der Fachwelt auf große Resonanz gestoßen.
Der Appell führender Mediziner und Wissenschaftler an die Politik zu einer entschlossenen Pandemiebekämpfung ist in der Fachwelt auf große Resonanz gestoßen.
Wie der "Kölner Stadt-Anzeiger" (Donnerstagausgabe) berichtet, unterstützen inzwischen rund 300 Ärzte und Forscher verschiedener Disziplinen den vom Kölner Internisten Michael Hallek und der Braunschweiger Virologin Melanie Brinkmann federführend verantworteten "Aufruf zum Handeln".
Entsetzt zeigte sich der Kölner Intensivmediziner Christian Karagiannidis, auch er Erstunterzeichner des Appells, allerdings über anhaltende Untätigkeit. Es sei ein "einziger Hohn", dass politisch Verantwortliche wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) immer noch so täten, als hätte die vierte Welle alle überrascht, sagte Karagiannidis der Zeitung. Inzwischen gerate die Intensivmedizin in Deutschland an ihre regulären Grenzen. Kliniken in Großstädten wie München und Regensburg seien "nächste Woche voll". Wenn der stellvertretende NRW-Ministerpräsident Joachim Stamp (FDP) den Ärzten vorwerfe, dass Pflegekräfte ihren Job aufgäben, sei das ein "nicht nachvollziehbarer Angriff auf den Berufsstand".
Unmittelbar vor den Beratungen des Bundestags über die Beendigung der "pandemischen Notlage von nationaler Tragweite" bezeichnete der Bonner Politologe Maximilian Mayer das Vorhaben als fatales Signal. Auch politisch-organisatorisch sei dieser Schritt falsch, fügte Mayer hinzu. Das als Ersatz geplante neue Gesetz der Parlamentsmehrheit aus SPD, Grünen und FDP verlagere die Pandemiebekämpfung komplett auf die Ebene der Länder und Kommunen. "Das kommt einer Sabotage des Pandemie-Managements gleich. Der Bund entledigt sich damit seiner Verantwortung, bei deren Wahrnehmung die Länder in den vergangenen zwei Jahren immer hinterher gehinkt und die Gesundheitsämter in den Kommunen momentan hoffnungslos überfordert sind", so Mayer.
Karagiannidis versicherte, die Medizin werde ihr Möglichstes tun, die Patientenversorgung sicherzustellen. "Wir werden schon jedem ein Bett geben können, aber womöglich ohne für die Intensivmedizin qualifizierte Pflegekräfte." Er verglich die Situation mit einem Flugzeug, in dem man einen Bahn-Lokführer ans Steuer setze. Das sei auch eine reale Gefahr für die Stabilität der Demokratie. "Wenn die Leute merken, die Krankenhäuser schaffen es nicht mehr, droht auch gesellschaftlich eine Katastrophe."
Hallek nannte es eine zynische Strategie, die Dinge weiterlaufen zu lassen, bis die Intensivstationen an ihre Grenzen kämen. "Jeder einzelne Patient auf der Intensivstation leidet schrecklich, und es sterben viele junge Menschen vor unseren Augen." Er erlebe jetzt "jeden Tag junge Menschen, die sich selbst kurz vor der Beatmung noch nicht vorstellen konnten, jemals so schwer an Covid-19 zu erkranken und womöglich sterben zu müssen".
In der Pandemiebekämpfung müssten alle Register gezogen werden. Darin zeigte sich die Gruppe einig. Auch die Impfkampagne sollte "mit allen Mitteln gepusht" werden, um eine weitere Verschlimmerung des Pandemieverlaufs noch abzuwenden. "Es ist falsch, aus Sorge vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft keinen größeren Druck auszuüben", sagte Melanie Brinkmann. "Wir überwinden die Spaltung, indem wir mit der Impfung alle auf einen gemeinsamen Schutzlevel kommen. Wenn wir nicht wollen, dass das Coronavirus unser Leben und das Leben der ganzen Gesellschaft weiter im Würgegriff hat, muss jetzt muss jetzt beherzt gehandelt werden", so Brinkmann. "Schaffen wir das nicht, wird das ein langer und finsterer Winter."